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Hirtenbriefe

 

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Papst Franziskus:
Predigt beim Gebet in der Pandemie
am Freitag, 27. März 2020 am Petersplatz

 (Feier, die mit dem außerordentlichen Segen „Urbi et Orbi“ endete)

 »Am Abend dieses Tages« (Mk 4.35). So beginnt das eben gehörte Evangelium. Seit Wochen scheint es, als sei es Abend geworden. Tiefe Finsternis hat sich auf unsere Plätze, Straßen und Städte gelegt; sie hat sich unseres Lebens bemächtigt und alles mit einer ohrenbetäubenden Stille und einer trostlosen Leere erfüllt, die alles im Vorbeigehen lähmt: Es liegt in der Luft, man bemerkt es an den Gesten, die Blicke sagen es. Wir sind verängstigt und fühlen uns verloren. Wie die Jünger des Evangeliums wurden wir von einem unerwarteten heftigen Sturm überrascht. Uns wurde klar, dass wir alle im selben Boot sitzen, alle schwach und orientierungslos sind, aber zugleich wichtig und notwendig, denn alle sind wir dazu aufgerufen, gemeinsam zu rudern, alle müssen wir uns gegenseitig beistehen. Auf diesem Boot ... befinden wir uns alle. Wie die Jünger, die wie aus einem Munde angsterfüllt rufen: »Wir gehen zugrunde« (vgl. V. 38), so haben auch wir erkannt, dass wir nicht jeder für sich, sondern nur gemeinsam vorankommen.
Leicht finden wir uns selbst in dieser Geschichte wieder. Schwieriger ist es da schon, das Verhalten Jesu zu verstehen. Während die Jünger natürlich alarmiert und verzweifelt sind, befindet er sich am Heck, in dem Teil des Bootes, der zuerst untergeht. Und was macht er? Trotz aller Aufregung schläft er friedlich, ganz im Vertrauen auf den Vater – es ist das einzige Mal im Evangelium, dass wir Jesus schlafen sehen. Als er dann aufgeweckt wird und Wind und Wasser beruhigt hat, wendet er sich vorwurfsvoll an die Jünger: »Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« (V. 40).
Versuchen wir zu verstehen. Worin besteht der Glaubensmangel der Jünger, der im Kontrast steht zum Vertrauen Jesu? Sie hatten nicht aufgehört, an ihn zu glauben, sie flehen ihn ja an. Aber schauen wir, wie sie ihn anrufen: »Meister, kümmert es dich nicht, dass wir zugrunde gehen?« (V. 38). Kümmert es dich nicht: Sie denken, dass Jesus sich nicht für sie interessiert, dass er sich nicht um sie kümmert. Im zwischenmenschlichen Bereich, in unseren Familien, ist es eine der Erfahrungen, die am meisten weht tut, wenn einer zum anderen sagt: „Bin ich dir egal?“ Das ist ein Satz, der schmerzt und unser Herz in Wallung bringt. Das wird auch Jesus erschüttert haben. Denn niemand sorgt sich mehr um uns als er. In der Tat, als sie ihn rufen, rettet er seine mutlosen Jünger.
Der Sturm legt unsere Verwundbarkeit bloß und deckt jene falschen und unnötigen Gewissheiten auf, auf die wir bei unseren Plänen, Projekten, Gewohnheiten und Prioritäten gebaut haben. Er macht sichtbar, wie wir die Dinge vernachlässigt und aufgegeben haben, die unser Leben und unsere Gemeinschaft nähren, erhalten und stark machen. Der Sturm entlarvt all unsere Vorhaben, was die Seele unserer Völker ernährt hat, „wegzupacken“ und zu vergessen; all die Betäubungsversuche mit scheinbar „heilbringenden“ Angewohnheiten, die jedoch nicht in der Lage sind, sich auf unsere Wurzeln zu berufen und die Erinnerung unserer älteren Generation wachzurufen, und uns so der Immunität berauben, die notwendig ist, um den Schwierigkeiten zu trotzen.
Mit dem Sturm sind auch die stereotypen Masken gefallen, mit denen wir unser „Ego“ in ständiger Sorge um unser eigenes Image verkleidet haben; und es wurde wieder einmal jene (gesegnete) gemeinsame Zugehörigkeit offenbar, der wir uns nicht entziehen können, dass wir nämlich alle Brüder und Schwestern sind.
»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Herr, dein Wort heute Abend trifft und betrifft uns alle. In unserer Welt, die du noch mehr liebst als wir, sind wir mit voller Geschwindigkeit weitergerast und hatten dabei das Gefühl, stark zu sein und alles zu vermögen. In unserer Gewinnsucht haben wir uns ganz von den materiellen Dingen in Anspruch nehmen lassen und von der Eile betäuben lassen. Wir haben vor deinen Mahnrufen nicht angehalten, wir haben uns von Kriegen und weltweiter Ungerechtigkeit nicht aufrütteln lassen, wir haben nicht auf den Schrei der Armen und unseres schwer kranken Planeten gehört. Wir haben unerschrocken weitergemacht in der Meinung, dass wir in einer kranken Welt immer gesund bleiben würden. Jetzt, auf dem stürmischen Meer, bitten wir dich: „Wach auf, Herr!“
»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Herr, du appellierst an uns, du appellierst an den Glauben. Nicht nur an den Glauben, dass es dich gibt, sondern an den Glauben, der uns vertrauensvoll zu dir kommen lässt. In dieser Fastenzeit erklingt dein eindringlicher Aufruf: »Kehrt um« (Mk 1,15); »kehrt um zu mir von ganzem Herzen mit Fasten, Weinen und Klagen« (Joël 2,12). Du rufst uns auf, diese Zeit der Prüfung als eine Zeit der Entscheidung zu nutzen. Es ist nicht die Zeit deines Urteils, sondern unseres Urteils: die Zeit zu entscheiden, was wirklich zählt und was vergänglich ist, die Zeit, das Notwendige von dem zu unterscheiden, was nicht notwendig ist. Es ist die Zeit, den Kurs des Lebens wieder neu auf dich, Herr, und auf die Mitmenschen auszurichten. Und dabei können wir auf das Beispiel so vieler Weggefährten schauen, die in Situationen der Angst mit der Hingabe ihres Lebens reagiert haben. Es ist das Wirken des Heiligen Geistes, das in mutige und großzügige Hingabe gegossen und geformt wird. Es ist das Leben aus dem Heiligen Geist, das in der Lage ist, zu befreien, wertzuschätzen und zu zeigen, wie unser Leben von gewöhnlichen Menschen – die gewöhnlich vergessen werden – gestaltet und erhalten wird, die weder in den Schlagzeilen der Zeitungen und Zeitschriften noch sonst im Rampenlicht der neuesten Show stehen, die aber heute zweifellos eine bedeutende Seite unserer Geschichte schreiben: Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger, Supermarktangestellte, Reinigungspersonal, Betreuungskräfte, Transporteure, Ordnungskräfte, ehrenamtliche Helfer, Priester, Ordensleute und viele, ja viele andere, die verstanden haben, dass niemand sich allein rettet. Angesichts des Leidens, an dem die wahre Entwicklung unserer Völker gemessen wird, entdecken und erleben wir das Hohepriesterliche Gebet Jesu: »Alle sollen eins sein« (Joh 17,21). Wie viele Menschen üben sich jeden Tag in Geduld und flößen Hoffnung ein und sind darauf besorgt, keine Panik zu verbreiten, sondern Mitverantwortung zu fördern. Wie viele Väter, Mütter, Großväter und Großmütter, Lehrerinnen und Lehrer zeigen unseren Kindern mit kleinen und alltäglichen Gesten, wie sie einer Krise begegnen und sie durchstehen können, indem sie ihre Gewohnheiten anpassen, den Blick aufrichten und zum Gebet anregen. Wie viele Menschen beten für das Wohl aller, spenden und setzen sich dafür ein. Gebet und stiller Dienst – das sind unsere siegreichen Waffen.
»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Der Anfang des Glaubens ist das Wissen, dass wir erlösungsbedürftig sind. Wir sind nicht unabhängig, allein gehen wir unter. Wir brauchen den Herrn so wie die alten Seefahrer die Sterne. Laden wir Jesus in die Boote unseres Lebens ein. Übergeben wir ihm unsere Ängste, damit er sie überwinde. Wie die Jünger werden wir erleben, dass wir mit ihm an Bord keinen Schiffbruch erleiden. Denn das ist Gottes Stärke: alles, was uns widerfährt, zum Guten zu wenden, auch die schlechten Dinge. Er bringt Ruhe in unsere Stürme, denn mit Gott geht das Leben nie zugrunde.
Der Herr fordert uns heraus, und inmitten des Sturms lädt er uns ein, Solidarität und Hoffnung zu wecken und zu aktivieren, die diesen Stunden, in denen alles unterzugehen scheint, Festigkeit, Halt und Sinn geben. Der Herr erwacht, um unseren Osterglauben zu wecken und wiederzubeleben. Wir haben einen Anker: durch sein Kreuz sind wir gerettet. Wir haben ein Ruder: durch sein Kreuz wurden wir freigekauft. Wir haben Hoffnung: durch sein Kreuz sind wir geheilt und umarmt worden, damit nichts und niemand uns von seiner erlösenden Liebe trennen kann. Inmitten der Isolation, in der wir unter einem Mangel an Zuneigung und Begegnungen leiden und den Mangel an vielen Dingen erleben, lasst uns erneut die Botschaft hören, die uns rettet: Er ist auferstanden und lebt unter uns. Der Herr ruft uns von seinem Kreuz aus auf, das Leben, das uns erwartet, wieder zu entdecken, auf die zu schauen, die uns brauchen, und die Gnade, die in uns wohnt, zu stärken, zu erkennen und zu ermutigen. Löschen wir die kleine Flamme nicht aus (vgl. Jes 42,3), die niemals erlischt, und tun wir alles, dass sie die Hoffnung wieder entfacht.
Das eigene Kreuz anzunehmen bedeutet, den Mut zu finden, alle Widrigkeiten der Gegenwart anzunehmen und für einen Augenblick unser Lechzen nach Allmacht und Besitz aufzugeben, um der Kreativität Raum zu geben, die nur der Heilige Geist zu wecken vermag. Es bedeutet, den Mut zu finden, Räume zu öffnen, in denen sich alle berufen fühlen, und neue Formen der Gastfreundschaft, Brüderlichkeit und Solidarität zuzulassen. Durch sein Kreuz sind wir gerettet, damit wir die Hoffnung annehmen und zulassen, dass sie alle möglichen Maßnahmen und Wege stärkt und unterstützt, die uns helfen können, uns selbst und andere zu beschützen. Den Herrn umarmen, um die Hoffnung zu umarmen – das ist die Stärke des Glaubens, der uns von der Angst befreit und uns Hoffnung gibt.
»Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr noch keinen Glauben?« Liebe Brüder und Schwestern, von diesem Ort aus, der vom felsenfesten Glauben Petri erzählt, möchte ich heute Abend euch alle dem Herrn anvertrauen und die Muttergottes um ihre Fürsprache bitten, die das Heil ihres Volkes und der Meerstern auf stürmischer See ist. Von diesen Kolonnaden aus, die Rom und die Welt umarmen, komme der Segen Gottes wie eine tröstende Umarmung auf euch herab. Herr, segne die Welt, schenke Gesundheit den Körpern und den Herzen Trost. Du möchtest, dass wir keine Angst haben; doch unser Glaube ist schwach und wir fürchten uns. Du aber, Herr, überlass uns nicht den Stürmen. Sag zu uns noch einmal: »Fürchtet euch nicht« (Mt 28,5). Und wir werfen zusammen mit Petrus „alle unsere Sorge auf dich, denn du kümmerst dich um uns“ (vgl. 1 Petr 5,7).

Amen

 


 

 

Erzbischof Kardinal Reinhard


Erzbischof Reinhard Kardinal Marx:
Hirtenbrief zum Beginn der Österlichen Bußzeit 2019

„Miteinander den Weg der Erneuerung gehen“

Liebe Schwestern und Brüder,

 

welche Vorsätze haben Sie für diese Fastenzeit gefasst? Worauf wollen Sie verzichten? Sieben Wochen ohne Süßigkeiten oder Alkohol oder soziale Medien? Oft geht es beim Verzichten eigentlich um uns selbst, um unser persönliches Wohlergehen, darum innerlich unabhängiger zu werden oder zu probieren, ob wir auf bestimmte Annehmlichkeiten verzichten können. All das hat seinen Wert. Doch in der Fastenzeit geht es um noch mehr: Es geht darum, das eigene Leben wieder neu zu orientieren, sich bewusst zu werden, was es heißt, Christ zu sein. Denn: Jeder von uns hat eine Mission, eine Sendung, einen Auftrag! In der Fastenzeit sollten wir neu überlegen, ob wir unserer Lebenssendung treu sind und wie wir die Kraft finden, den Weg zu gehen, der wirklich unser Weg ist, den nur wir selbst gehen können.

 Das Evangelium des ersten Fastensonntages erzählt von der Fastenzeit, die Jesus in der Wüste verbringt. Die 40 Tage sind für ihn ein Nachdenken, Ringen und Beten. Er fragt sich: „Was ist meine Sendung? Wie kann ich den Auftrag Gottes an mich verstehen? Was soll ich tun? Was soll ich den Menschen verkünden? Wie soll ich leben?“ Diese Fragen und die Versuchungen falscher Antworten begleiten ihn durch die Tage in der Wüste.

In seinem Ringen und Beten kristallisiert sich eine Entscheidung, eine Wahl, klar heraus. Es ist die Entscheidung, auf keinen Fall den Weg der Macht und der Herrschaft über andere Menschen zu gehen, sondern im Zeichen der Machtlosigkeit, ja der Ohnmacht, die am Ende am Kreuz sichtbar wird, deutlich zu machen, wer Gott für uns Menschen ist. Es geht ihm ja um das Reich Gottes, darum, dass das Geheimnis Gottes den Menschen erfahrbar wird, dass der Himmel sich öffnet, dass die Wirklichkeit der Liebe Gottes zugänglich wird. Dafür steht Jesus von Nazareth mit seinem Wort, mit seinem Leben und mit seinem Tod.

 Wenn wir nun die Österliche Bußzeit beginnen, persönlich und als Kirche, als Volk Gottes, dann werden wir eingeladen, mit Jesus diesen Weg zu gehen und unseren Blick frei zu machen für unsere Sendung, für unseren Auftrag in dieser Zeit. Die Fastenzeit soll ja eine Zeit der Exerzitien für die ganze Kirche sein.


 Um den Blick frei zu machen und manchen Ballast abzuwerfen, der uns beschwert und unseren eigentlichen Auftrag verdeckt, gibt uns die geistliche Tradition der Kirche einen Dreischritt an die Hand, den auch Papst Franziskus immer wieder in der Tradition der Spiritualität der Jesuiten neu einübt. Es ist eine geistliche Übung in drei Schritten. Diese drei spirituellen Schritte gehen so:

  1. Es beginnt damit, hinzuschauen und hinzuhören auf das, was geschieht. Die Wirklichkeit in all ihren Dimensionen muss wirklich ernst genommen werden, und die Stimmen der Menschen, besonders der Schwachen, müssen Eingang finden in unser Herz. Es braucht eine Zeit des Hörens.

  2. Dann kommt der zweite Schritt: das Verstehen, das Unterscheiden. Das ist wichtig, um die Fülle des Wahrgenommenen und der Eindrücke nach Kriterien zu ordnen. Es geht darum, zu begreifen, was Gott mir sagen will durch das, was aus der Realität auf mich zukommt. Hierbei sind de Orientierung am Evangelium und das Gebet das Wichtigste.

  3. Und dann erst kommen die Entscheidungen, die Wahl der konkreten Schritte, die neuen Vorsätze und Selbstverpflichtungen, das neue Handeln in unserem persönlichen Leben und im Leben der Kirche.

Ich lade Sie ein, dass wir auch im Erzbistum München und Freising versuchen, immer wieder neu diese Schritte zu gehen. Dabei weiß ich sehr wohl, dass ich als Ihr Bischof besonders gefordert bin, voranzugehen. Doch in den großen Herausforderungen, vor denen wir stehen, brauchen wir einander, brauchen wir den gemeinsamen Weg. Und deshalb ist für mich diese Fastenzeit 2019 auch ein besonderer geistlicher Moment, eine Einladung, gemeinsam und mit Jesus Christus zusammen diese 40 Tage zu erleben, um neu zu begreifen, wozu wir gesandt sind, und auch zu verstehen, was hinter uns bleiben muss, wo wir uns ändern müssen und wo wir Wege der Erneuerung gehen können. Deshalb möchte ich die drei Schritte noch einmal durchdenken:

 Erster Schritt: Hinhören, Hinschauen

 Wenn wir auf die letzten Monate blicken, erfüllt uns – mich jedenfalls – immer wieder das Gefühl der Erschütterung über das, was inmitten der Kirche geschehen ist. Seit Jahren wird uns das mehr und mehr bewusst. Schon seit 2010 beschäftigen wir uns intensiv in der Frage sexuellen Missbrauchs mit Maßnahmen der Prävention und des Kinderschutzes. Und wir haben viel erreicht. Aber ich habe den Eindruck, dass erst jetzt vielen die Herausforderung dieses Geschehens vor Augen steht und auch die Erkenntnis, dass die selbstverständlich notwendigen Maßnahmen zur Prävention, zur Aufarbeitung, zur Orientierung an den Betroffenen nicht ausreichen. Wirklich hinschauen und hinhören bedeutet auch zu sehen, wo falsche Machtstrukturen Hindernisse aufbauen, wo Rechthaberei, Eifersucht und Machtmissbrauch das Klima in der Kirche, in den Pfarreien, in unseren Gemeinschaften vergiften. Wir müssen verstehen, dass wir manche Ursachen des Missbrauchs nur dann überwinden, wenn wir der Wahrheit nicht ausweichen durch Beschwichtigungen und Tabus.

Letztlich gilt für das ganze Volk Gottes, für uns alle, liebe Schwestern und Brüder, aber natürlich besonders für uns Bischöfe und Priester: Wo Anspruch und Wirklichkeit auseinander fallen - wo das, was verkündet wird und das was gelebt wird, nicht mehr in Übereinstimmung zu bringen sind -, wird die Glaubwürdigkeit der Kirche zerstört und damit unser Auftrag und unsere Sendung unwirksam.

 Zweiter Schritt: Verstehen, Unterscheiden

 Vom Evangelium her ist klar, dass der Schutz von Kindern und Jugendlichen in der Kirche selbstverständlich sein muss. Das Engagement in dieser Aufgabe müssen und werden wir stetig ausbauen und verbessern.

 Aber im Blick auf Jesus sehen wir auch, dass ein Kern des Problems der Machtmissbrauch in der Kirche ist. Jesus selbst geht den Weg der Machtlosigkeit. Wir müssen gemeinsam im Blick auf das Evangelium eine erneuerte Kirche werden, in der ein anderes Miteinander aller sichtbar wird. Ich weiß sehr wohl, dass auch hier wir als Bischöfe besonders gefordert sind, und dem werde ich mich auch stellen in meinen unterschiedlichen Aufgaben.

 Die Phase der Unterscheidung ist nicht möglich ohne das Gebet. Das Gebet öffnet unser Herz und unseren Verstand für die Wahrheit, für die Begegnung mit Jesus Christus, für das Wort des Evangeliums. Ohne das gemeinsame und das persönliche Gebet wird der Schritt der Unterscheidung und des Verstehens nicht wirklich getan werden können. Schon jetzt kann man es spüren. Innerhalb der Kirche scheint das Gegeneinander unterschiedlicher Gruppen und theologischer Überzeugungen größer zu werden. Der Schritt des Zuhörens wird nicht gemacht, und damit auch nicht der Schritt des gemeinsamen Verstehenwollen.

 Nur aus der Kraft des Gebetes, davon bin ich überzeugt, kommt der Mut, auch wirklich einen Weg der Erneuerung zu gehen, der Veränderung bedeutet und nicht nur zurückblickt, der auf die Zukunft schaut und neue Wege für die Kirche aufzeigt. Deshalb lade ich in dieser Fastenzeit zu drei Gebetszeiten in die Bürgersaalkirche in München ein, damit wir gemeinsam um die Erneuerung der Kirche beten. Und ich bitte auch Sie alle, liebe Schwestern und Brüder, in diesen Wochen besondere Zeiten des Gebetes für eine Erneuerung der Kirche zu halten. Denn wer zu schnell vom ersten Schritt des Hinschauens zum Handeln weitergeht, überspringt den notwendigen Schritt des Verstehens, des Unterscheidens im Licht des Evangeliums. Dazu ist das Gebet unerlässlich.

 Dritter Schritt: Handeln, Entscheiden

 Es ist jetzt an der Zeit, als Kirche diese drei Schritte, diesen Weg wirklich zu gehen. Es macht keinen Sinn, nur ein paar Forderungen aufzustellen, ohne dass wir einen solchen geistlichen Weg gehen. Dazu möchte ich auch die Bischofskonferenz ermutigen. Es geht hier nicht einfach um einige kirchenpolitische Maßnahmen, sondern um einen Weg der Erneuerung, der allerdings auch mutig die Themen anpackt, die von den Gläubigen eingebracht werden und die sich auch durch die Diskussionen der letzten Monate als wichtig für den Weg in die Zukunft herausgestellt haben.

 

In der Vollversammlung der Deutschen Bischofskonferenz haben wir bereits drei Themenfelder genannt, die aber noch eine wirkliche Vertiefung im Sinne der drei Schritte erforderlich machen:

 

  • das Thema der Macht, des Machtmissbrauchs und der Kontrolle von Macht in der Kirche,

  • der Blick auf die Ausbildung der Priester und die priesterliche Lebensform

  • und ein erneuerter Blick auf Fragen der Sexualmoral der Kirche.

 

Wir können all das nur miteinander besprechen und auch gemeinsam vorangehen, wenn wir die Schritte des Hinhörens und des Unterscheidens nicht auslassen.

Liebe Schwestern und Brüder, ich verspreche Ihnen, dass ich mich sehr dafür einsetzen werde, dass dieser Weg in unserem Erzbistum und auch in der Kirche in Deutschland gegangen wird mit dem Mut, der aus der Kraft des Gebetes kommt. Und so gehe ich mit Ihnen auch persönlich in diese Österliche Bußzeit mit all den Fragen, die ich mir auch selbst stelle, im Blick auf den Weg der Kirche, aber auch auf mein eigenes Leben, so wie Sie es auch tun, wenn Sie sich neu auf den Weg machen, um zu entdecken, was es heißt, heute Christ zu sein.

 

So wünsche ich Ihnen eine gute Zeit des Hörens, des Unterscheidens und des Handelns.

Ihr

       Unterschrift  Erbischof Kard. Marx


Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising

München, im Februar 2019

 

 

Reinhard Kardinal Marx: „Zum Sonntag“,

im Bayerischen Rundfunk am 1. Juli 2017

Weltgemeinwohl für alle

 

Für praktische Fragen müssen praktische Antworten gefunden werden. Deshalb ist es zuweilen ganz hilfreich, selbst die großen Probleme der Welt überschaubar zu machen. Das gilt auch für die Fragen, die Ostafrika betreffen. Dort gibt es eine zunehmende humanitäre Katastrophe: Millionen Menschen sind von einer Hungersnot betroffen. Diese Katastrophe findet oft weitab von unserer Öffentlichkeit statt. Erst, wenn wir die Bilder entkräfteter und unterernährter Menschen sehen, nehmen wir das wieder wahr. Dann müssen sehr rasch praktische Antworten gefunden werden: es braucht Hilfsgüter und auch Spendengelder.

 

Neben dieser unersetzbaren praktischen Hilfe aus Solidarität, müssen wir auch über die grundlegenden Fragen ernsthaft nachdenken. Denn die einzelnen Probleme können nur nachhaltig gelöst werden, wenn sie in einem größeren Zusammenhang verstanden werden. In dieser Verantwortung stehen auch die Staats- und Regierungschefs der G20, die sich nächste Woche in Hamburg treffen. Verlässliche Gesprächspartner auf staatlicher Ebene sind ebenso notwendig wie ein weltweiter Ordnungsrahmen, für den die katholische Kirche immer wieder eintritt.

 

Für die Katholische Soziallehre ist dafür leitend der Begriff des Weltgemeinwohls. Das meint Folgendes: In einer Welt, die nicht nur ökonomisch immer enger zusammenrückt, muss es über das Gemeinwohl innerhalb der einzelnen Staaten hinaus auch ein internationales Gemeinwohl geben. Um ein solches weltumspannendes Gemeinwohl nachhaltig in den Blick nehmen zu können, reichen praktische Einzellösungen nicht aus, sondern notwendig sind Strukturen einer internationalen Ordnung. Solche gesicherten Strukturen müssen sich um die Fragen kümmern, die von einzelnen Nationalstaaten längst nicht mehr angemessen bearbeitet und gelöst werden können.

 

Das gilt erst recht, wenn Konflikte innerhalb und zwischen einzelnen Ländern zunehmen und es schwierig wird, in internationalen Gesprächen verlässliche Partner zu finden. Und das gilt auch gerade, wenn es in Europa und den Vereinigten Staaten Tendenzen zur Abschottung und zum Nationalismus gibt, die das Wohl der gesamten Weltgemeinschaft aus dem Blick verlieren und nur die eigenen Interessen sehen wollen.

 

Wie man die internationale Ordnung gestaltet und auch in einer guten Balance hält zwischen den Interessen der Nationalstaaten und dem Weltgemeinwohl ist ohne Zweifel eine schwierige Aufgabe. Aus dem christlichen Glauben heraus ist es aber eine vordringliche Aufgabe, die der gleichen Würde des Menschen geschuldet ist. Wir sind füreinander verantwortlich, weil jeder Mensch Bild Gottes ist. Es gibt die eine Menschheitsfamilie, die in Solidarität verbunden ist.

 

Die Idee des Weltgemeinwohls ist notwendig mit dem Gedanken der Solidarität verbunden. In unserer aktuellen Weltlage wird Afrika so etwas wie der Testfall internationaler Solidarität sein. Der Kontinent hat riesige Chancen der Entwicklung, und sicher auch riesige politische, wirtschaftliche und soziale Probleme. Die Probleme Afrikas müssen vor Ort gelöst werden, aber mit unserer Unterstützung. Eine solche Solidarität ist letztlich gut für alle, auch für uns!

 

 

Erzbischof Kardinal Reinhard


Erzbischof Reinhard Kardinal Marx: Fastenhirtenbrief

„Ein Leben in Freiheit und Verantwortung"



Für Kardinal Reinhard Marx bedeutet „Christsein Ermutigung zu einem Leben in Freiheit und Verantwortung“. In seinem Hirtenbrief zum Beginn der Österlichen Bußzeit bezieht sich der Erzbischof von München und Freising auch auf die Umfrage unter Gläubigen mit Blick auf die Synode über Ehe und Familie.

Der Fastenhirtenbrief wurde am ersten Fastensonntag  in allen Gottesdiensten im Erzbistum verlesen.

 


Liebe Schwestern und Brüder,

Freiheit ist ein großes Wort. Die Geschichte der Menschen ist geprägt vom Kampf um die Freiheit. Fremdherrschaft und Zwänge zu überwinden, Unterdrückung und Diktatur zu bekämpfen, sich von innerem und äußerem Druck zu befreien, all das wiederholt sich immer wieder in der Geschichte der Menschheit, der Völker, aber auch im Leben jedes Einzelnen. Der Ruf nach Freiheit, die Suche nach Freiheit, der Einsatz fir die Freiheit ist tief im Menschen verwurzelt und das wird sicher so bleiben. Auch jüngste politische Ereignisse, wie etwa die Auseinandersetzungen in der Ukraine oder in der arabischen Welt, zeigen uns, wie leidenschaftlich und intensiv der Kampf fir die Freiheit ausgefochten wird. Aber die politische Freiheit ist nur die eine Seite der Medaille. Die andere ist, die Freiheit auch wirklich zu leben. Wir dürfen dankbar sein fir unser offenes und freies Gemeinwesen. Aber wir spüren auch immer mehr, wie sehr die Freiheit uns herausfordert. Die Zwänge politischer Unterdrückung sind verschwunden. Der Druck, einer bestimmten Kultur, Religion, Familientradition folgen zu müssen, wird schwächer. Das sollten wir nicht beklagen. Aber es ergibt sich dann die Notwendigkeit, in einer Fülle von Möglichkeiten selbst zu entscheiden. Dann kann auch die schmerzliche Seite der Freiheit erfahrbar werden, die „Qual der Wahl", wir müssen uns eben mit verschiedenen Wegen auseinandersetzen. Wo wir nicht mehr in feste Ordnungen eingezwängt sind, müssen wir selbst entscheiden über unsere Lebensweise, unsere Ziele, unsere Freundschaften, unsere politischen und religiösen Überzeugungen. Die Freiheit ist Gabe und Aufgabe.

Aber genau das entspricht zutiefst dem christlichen Menschenbild. Zur Fülle des Menschseins gehört, sich in Freiheit und Verantwortung für das Gute zu entscheiden. Vielleicht ist diese Situation zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte für so viele Menschen Realität geworden. Denn auch Familie und Religion können nicht mehr von vorneherein festlegen, wie die Entscheidungen des Einzelnen ausfallen. Es gibt keine Disziplinierungsmöglichkeiten mehr, um jemanden in eine bestimmte Richtung zwingen zu können, es sei denn durch Recht und Gesetz. Wie können wir mit dieser kostbaren, aber auch anstrengenden Gabe und Aufgabe der Freiheit umgehen?
Manche wünschen sich die Zeit der Übersichtlichkeit und Klarheit zurück. Sie wollen ein klares Gerüst, das ihnen die persönliche Entscheidung abnimmt. Sie möchten lieber in übersichtlichen Verhältnissen leben und leiden an der modernen pluralen und bunten Welt, die eben auch anstrengend ist. Aber ich bin überzeugt: Es wird keine Rückkehr in übersichtliche, überschaubare, klare Verhältnisse geben. Die Freiheit, in der wir leben, wird sicher nicht wieder zurück genommen werden. Und ich sage: Hoffentlich! Es kann also nicht darum gehen, für eine Welt zu kämpfen, die wieder einfacher, klarer ist und uns die Anstrengung der Freiheit nimmt, sondern darum, in einer pluralen und vielfältigen Wirklichkeit aus dem christlichen Glauben heraus einen klaren Kopf zu bekommen und zu behalten; also im Geist des Evangeliums Freiheit in Verantwortung wahrzunehmen. Das ist der Weg, den wir als gläubige Christen gehen sollten.

Vor einigen Wochen wurde von der Deutschen Bischofskonferenz ein Text veröffentlicht, in dem die Antworten von vielen Gläubigen im Blick auf die Synode über Ehe und Familie zusammengefasst wurden. Es gab ja eine Fülle von Fragen, die uns von Rom geschickt wurden und die auch an die Pfarreien und Dekanate weitergeleitet werden sollten. Das ist auch in unserem Erzbistum geschehen. Wir haben aber auch deutlich gemacht, dass viele der Fragen schon in unserem Zukunftsforum behandelt und auch intensiv diskutiert wurden. Deshalb gehören auch diese Ergebnisse in die Antwort hinein. Der Text der Bischofskonferenz fasst in guter Weise die vielfältigen Meinungen im Volk Gottes zu Sexualität, Ehe und Familie zusammen.
In der Öffentlichkeit wurde besonders herausgestellt, dass es in diesen Fragen eine kaum zu überbrückende Diskrepanz zwischen dem Lehramt der Kirche und der Meinung der gläubigen Christen gäbe. Mir scheint diese Wahrnehmung etwas oberflächlich zu sein. Ich habe den Eindruck, dass viele nicht die grundsätzlichen lehramtlichen Äußerungen ablehnen: Katholische Christen sind nicht generell gegen die Unauflöslichkeit der Ehe oder dagegen, dass die sexuelle Begegnung in eine Beziehung hineingehört, die auf lebenslange Treue und Verlässlichkeit ausgerichtet ist. Ich erlebe es immer wieder in Gesprächen mit jungen Menschen, dass sie das eigentlich für sich selber wollen. Sie suchen das Ja-Wort, das nicht wieder in Frage gestellt wird. Sie suchen den Menschen, der für immer mit ihnen durchs Leben geht. Sie möchten nicht, dass Sexualität wie eine Ware behandelt wird, sondern Ausdruck der Liebe ist. Die meisten wünschen auch eine Familie.
Die Spannung liegt eigentlich in einem anderen Feld. Viele fragen sich: Was sagt mir die Kirche, die Gemeinschaft des Glaubens, wenn das Ziel, das ich mir in meinem Leben vorgenommen habe, nicht erreicht wird? Was geschieht, wenn meine Ehe, die ich nach bestem Wissen und Gewissen eingegangen bin, dann doch scheitert aus den verschiedenen Gründen? Wie antwortet die Kirche, wenn mein Leben nicht ganz so verläuft, wie ich es selber wollte, wenn es also von den eigentlich auch von mir akzeptierten Grundsätzen abweicht? Darf ich dann die Erfahrung machen, dass die Gemeinschaft des Glaubens zu mir steht? Wird meine Gewissensentscheidung für einen neuen Anfang dann respektiert? Die Grundfrage ist also nicht: Müssen wir die Lehre der Kirche zu grundsätzlichen Fragen von Sexualität, Liebe und Ehe verändern, sondern: Wie gehen wir mit der Vielfalt des Lebens und der Entscheidungen um, die manchmal dazu führen, dass das Leben nicht den Weg nimmt, den die Menschen sich vorgestellt haben? Darüber müssen wir weiter intensiv nachdenken. Denn in dieser Frage geht es zutiefst um die Herausforderung, Freiheit in Verantwortung zu leben. Deswegen wird ein wichtiger Punkt für die nächsten Jahre sein, wie wir Menschen helfen können, verantwortlich auf der Grundlage des Evangeliums und des gemeinsamen Lebens in der Kirche eine Gewissensentscheidung zu fällen, und wie die Gemeinschaft der Kirche dann mit dieser Entscheidung umgeht.

Wie kann das geschehen? Der Erste Fastensonntag gibt uns Hinweise aus der Heiligen Schrift. Von zwei Versuchungen ist die Rede. Wir hören in der Schöpfungsgeschichte vom sogenannten Sündenfall, der beginnt mit dem Misstrauen Gott gegenüber. Die Schlange stellt die Gebote Gottes ganz negativ dar und nährt damit die Zweifel der ersten Menschen, ob Gott es wirklich gut mit ihnen meint. Dass dem Menschen Grenzen gesetzt werden, wird nicht als Schutz der Freiheit, sondern als Bedrohung gesehen. Der Griff nach der verbotenen Frucht kommt aus dem Willen, die Grenze zwischen Gott und Mensch aufzuheben: Eine Freiheit zu leben, die nicht mehr gebunden, sondern nur noch auf die eigenen Bedürfnisse bezogen ist. Ganz anders die Versuchungsgeschichte im Evangelium. Jesus, der wirklich ganz freie Mensch, erlebt ebenfalls - menschlich gesprochen - die Versuchung, die Grenze zwischen Gott und Mensch zu zerstören. Denn wie in der Schöpfungsgeschichte im Grunde die Abschaffung Gottes im Blick ist, so geht es in der Versuchungsgeschichte Jesu um die Abschaffung des Menschen, um die Aufhebung der Freiheit. Aus Steinen Brot machen, zum Wundertäter werden oder alle Reiche der Welt beherrschen - das wäre im Grunde das Ende der Welt des Menschen, das Ende der Freiheit. Jesus aber will nicht die Abschaffung des Menschen, sondern die Einladung in eine neue Lebensweise. Er will ein Leben in Freiheit und Verantwortung. Er möchte Menschen ermutigen, ihm zu folgen, im Blick auf Gott den Schöpfer und Erlöser ihren Weg zu gehen, in einer freien Gewissensentscheidung.

Liebe Schwestern und Brüder, Christsein ist nicht ein Leben in einem Haus von einengenden Geboten und Verboten, sondern Ermutigung zu einem Leben in Freiheit und Verantwortung. Unsere Gewissensentscheidungen orientieren sich am Beispiel Jesu, am Leben der Heiligen, an der Lehre der Kirche. Christsein ist keine anspruchslose Existenz. Es fordert uns ganz heraus, aber es ist ein Weg in die wirkliche, wahre Freiheit. Denn wir hören ja auf den, der Ursprung und Garant unserer Freiheit ist: auf Gott selbst. Es wird darauf ankommen, in unserer Verkündigung und Evangelisierung dies deutlicher zu machen und so zu helfen, dass Menschen weiter mitgehen können in der Gemeinschaft des Volkes Gottes, auch wenn sie in ihren eigenen Lebenszielen scheitern und dann neue Wege oder auch Umwege gehen. Wirkliche Gewissensentscheidungen, die Maß nehmen am Evangelium Jesu, sind auf das Gute ausgerichtet. Aber wir wissen allzu gut, dass in unserem Leben auch Anderes passiert. Dass Schuld und Sünde, Missverständnisse, Fehler, falsche Entscheidungen uns abbringen können von dem einmal eingeschlagenen Weg. Es ist für mich immer wieder berührend, wie die Schöpfungsgeschichte nach dem Sündenfall von der Treue Gottes erzählt. Die Menschen sind einen falschen Weg gegangen, aber Gott bleibt trotzdem treu. Er kümmert sich um sie. Seine Liebe und Fürsorge endet nicht mit der Sünde des Menschen. Gott lässt nicht vom Menschen! Niemals! Das ist der Kern der Frohen Botschaft in der Schöpfungsgeschichte und das will uns auch das Evangelium des heutigen Sonntags sagen. Jesus erhebt sich nicht über uns in eine andere Welt, sondern wird unser Bruder und geht in unsere Lebenssituationen hinein und begleitet uns. Wenn wir mit ihm gehen, sind wir freie Menschen, aber wir müssen es auch immer neu werden.
Jesu Worte und Weisungen sind nicht einfach eine Ansammlung von Geboten und Verboten, sondern Hilfen, Orientierungen zu einem Weg in die wahre Freiheit. Deswegen fasst Jesus das ganze Gesetz in dem einen Hauptgebot der Gottes- und Nächstenliebe zusammen. Sein Ruf zur Umkehr ist die Einladung an uns alle, die Gabe der Freiheit nicht zu verspielen, sondern in Freiheit das Gute zu wählen und zu tun. Dazu lädt uns die Österliche Bußzeit ein: Mit Jesus verbunden im Gebet und in der Feier der Heiligen Eucharistie, gemeinsam als Volk Gottes unseren Weg auf Ostern zuzugehen, dem Fest unserer Befreiung.

Von Herzen segne ich Sie alle im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes.

Ihr
Unterschrift  Erbischof Kard. Marx

Reinhard Kardinal Marx
Erzbischof von München und Freising München, im Februar 2014